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In den Fängen des Feuilletons - In den Fängen des Feuilletons

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Der Journalist Axel Brüggemann leitete crescendo von Mai 2006 bis August 2008 und sorgte gleich mit seiner ersten Geschichte über das Genre des Musikkritikers für Aufsehen. Hier beschreibt er in aller Ausführlichkeit die Probleme des modernen „criticus musici“.Die Spezies der Musikkritiker hat sich im Laufe der Evolutionsgeschichte nicht nennenswert gewandelt. Ihre wenig ausgeprägte Fähigkeit, sich neuen Zeiten anzupassen, ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass einige ihr rasches Aussterben befürchten. Der Criticus Musici zeichnet sich – wie der Wiener Kulturforscher Georg Kreisler einmal in seinem äußerst kritischen Kritikerlied feststellte – durch eine gewisse Eitelkeit und eine existenzielle Hassliebe zu künstlich erzeugten Klängen aus.
Die Rasse ist nicht nur durch eine sich wandelnde Umwelt bedroht (ihr Heimatbiotop, die Zeitung, ist durch Wandlungen der Mediaspäre ernsthaft in Gefahr), sondern auch durch intime Feindschafts- und Konkurrenzkämpfe unter Artgenossen, die bei anderen Kreaturen auf allerhand Unverständnis stoßen.

Im 19. Jahrhundert hat die Evolution durch die Entstehung der Musikkritiker in Zeiten neuer, bürgerlicher Opernhäuser und na­tionaler Musikkonservatorien eine soziale Lücke gefüllt. Die ersten Kreaturen der neuen Gattung waren entweder Weiterentwicklungen von Journalisten, die aus der Politik oder der Wirtschaft auf das Land der Musik gekrochen sind, oder Komponisten, die sich – auf Grund veränderter Lebenswelten – das Schreiben als Nebenbeschäftigung angeeignet haben, um im Olymp der Zeitlosigkeit unsterblich zu werden.
Schon in der jungen Geschichte der Musikkritik sind diese beiden unterschiedlichen Evolutionsformen vorzufinden. Stellvertretend für den schreibenden Komponisten steht unter anderen Robert Schumann, der in seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ einen ästhetischen Kampf gegen das musikalische Establishment führte und gleichzeitig die sogenannte Avantgarde beflügelte. Seine begeisterten Kritiken über das Werk Johannes Brahms’ haben diesen Komponisten letztlich erst hoffähig gemacht. Und sie zeigen, welch emotionale Bedeutung die Musikkritik haben kann: Nicht selten hat die Debatte über Klänge auch ungeahnte Einflüsse auf den emotionalen Haushalt von Journalisten und Musikern; Brahms war nicht nur Freund Schumanns, sondern warf schnell auch ein Auge auf dessen Frau Clara.

Tatsächlich scheint es sich bei der Musikkritik um eine evolutionäre Erfindung zu handeln, deren biologischer Sinn darin bestand, durch Streit und ideologische Scharmützel eine Öffentlichkeit zu schaffen und die Existenzialität der Musik innerhalb eines übergeordneten Gesellschaftsbiotops zu behaupten.
Musikkritik, besonders, wenn sie beißt, wirkt dabei nicht nur für ihre Leser inspirierend, sondern auch für die Spezies der Musikschaffenden selbst. Lange Zeit lobte Eduard Hanslick (er gehört zur anderen Urform des Kritikers) die Werke Richard Wagners, bis beide sich in Wien trafen. Der Komponist las gerade aus seinem neuen Werk, in dem es um die Freiheit der Kunst, den Bruch mit alten Formen und die Kritik an der Kritik ging – und hatte den Kritiker eingeladen. Hanslick bezog dieses Libretto (nicht ganz zu Unrecht) auf sich selbst und wurde fortan zum Intimfeind Wagners. Dieser revanchierte sich nur wenig später für die Verrisse, indem er den Kritiker unter dem Namen „Beckmesser“ zum Negativ-Protagonisten seiner Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ erhob.
Dieses Fallbeispiel aus der Fauna des Criticus Musici zeigt exemplarisch die kreative Win-Win-Situation, von der sowohl die Bissigkeit der Kritik als auch die Kreativität der Musik profitieren.

Schumann und Hanslick, die beiden vielleicht prominentesten Vertreter der Spezies Musikkritiker, deren Erbe von Legenden wie Karl Kraus (Spezialgebiet: überhebliche Wahrheiten) bis Joachim Kaiser (Spezialgebiet: unterhaltsames Erzählen schwerer Inhalte) fortsetzen ließe, existiert in diesem Sinne kaum noch. Das liegt auch daran, dass der moderne Criticus Musici seine heilsam wirkenden Wutanfälle und seine euphorischen Lobeshymnen zum großen Teil jenseits einer breiten Öffentlichkeit im Elfenbeinturm des „Feuilletons“ ausbreiten muss – und selbst hier nur eine kostspielige, spesenteure Randerscheinung ist.

Das Biotop des „Feuilletons“ (was auf Französisch symbolträchtig „Blättchen“, also unwesentlicher Teil einer Zeitung, bedeutet) hat sich in den letzten zehn Jahren zum ersten Mal grundlegend gewandelt. Früher war es allgemeiner common sense, dass die Geschichte unserer Welt und Gesellschaft in Konzerthäusern und Theatern in Form von Kunst verhandelt wurde. Die sogenannte „Inszenierung“ und die Überhöhung der Wirklichkeit durch Musik und Gesang schien ein geeignetes Mittel zu sein, die sogenannte Wirklichkeit in Frage zu stellen – und der Musikkritiker war derjenige, der das, was er gesehen hatte, einordnete und erklärte.

Heute ist die Inszenierung längst Teil unseres Alltags, und oft überhöhter, pathetischer größer als die Oper oder das Konzert es je gewesen sind. Kein Wunder also, dass das Feuilleton heute auch die Krawattenfarbe von Barack Obama, die Inszenierung Angela Merkels auf einem Parteitag, einen emotionalen Aufstand in der Türkei oder die Möglichkeiten der Selbstinszenierung eines jeden Bürgers via Facebook als Teil der Kultur begreift – und darüber schreibt. Früher wurde all das über den Umweg der Bühne im Feuilleton verhandelt. Heute werden die Musikkritiker durch Kultursoziologen ersetzt, die darauf verzichten, unsere Welt im Theater zu ordnen – sie tun das direkt und unmittelbar im feuilletonistischen Essay. Der moderne Journalist versteht sich nicht mehr als Diener und Interpret der Kunst, sondern als Künstler.
Die Konsequenz kann man beklagen, wohl aber kaum ändern: Die Kritik verschwindet allmählich aus den Zeitungen. Die großen Opern finden längst in der Politik statt, die kleine Oper wird in Fachmagazinen für ein Spezialpublikum abgehandelt.

Ich hatte die Ehre, zwei Jahre lang am „Crescendo“ mitzuarbeiten – und es war damals unser Ziel, die Auffassung von Kulturjournalismus neu zu beleben. Nicht aufzuhören, die Behauptung Platons neu zu formulieren, dass Menschen, die an den Regeln der Töne rütteln, immer auch an den Regeln unserer Gesellschaft rütteln. Dass Musik Teil von Politik, Wirtschaft, Mode und Ästhetik ist – dass eine Musikzeitschrift immer auch eine Zeitschrift über die Welt ist, in der wir leben. Dass eine Klassik-Zeitschrift eine sinnliche Zeitschrift ist und den Criticus Musici herausfordert, wachsamer Bürger zu sein. Oder, frei nach Mozart, mehr noch: Mensch!

Wer Musik als Medium begreift – also als Mittel, um anderen Menschen Informationen, Gefühle oder Ideen zu vermitteln –, muss sich unweigerlich fragen, wie die Entwicklung der Medienlandschaft den Transport musikalischer Inhalte beeinflusst. Eine Partitur ist schließlich kein Bild, das wir an die Wand hängen und anschauen. Musik wird jeden Abend neu geschaffen, sie hat zwei Schöpfungsakte: die Komposition und die Interpretation. Letzterem gilt das Hauptinteresse der modernen Kritik. Schuman und Hanslick haben den ersten Schöpfungsakt begleitet. Wir fragen, welche gegenwärtigen Ideen findet ein Musiker, Dirigent oder Regisseur in einer alten Partitur? Wie stellt er die Noten aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart? Und wie wirkt all das auf uns?
Der große Unterschied ist, dass Schumann und Hanslick als Vertretern des Ciriticus Musici lediglich das Wort blieb, um den Eindruck von Musik auch jenen zu vermitteln, die nicht im Konzert oder bei einer Opernaufführung dabei waren. Heute kann das Medium Musik auf andere, modernere  Medien zurückgreifen, um sich – ganz ohne Worte – selbst zu vermitteln: Schallplatte, CD und MP3, Fernsehen, Video, DVD, Live-Streams und Kinoübertragungen. In all diesen Formen wird sogar jene Aura mitvermittelt, die Walter Benjamin nur im Angesicht des originalen Kunstwerkes vermutete. Dabei ging er allerdings von Bildern aus, deren Kraft sich nur von Angesicht zu Angesicht überträgt. Bei der Musik ist das anders: Sie beruht ja gerade auf dem Mechanismus der Reproduktion – auf dem Prinzip der zweiten Schöpfung. Und die Möglichkeiten dazu sind im Zeitalter der medialen Reproduzierbarkeit ins Unendliche gewachsen.

Die Deutungshoheit des Musikkritikers durch das Medium Zeitung wird dadurch untergraben, dass andere Medien inzwischen jeden Zuschauer selbst in die Lage versetzen, zum Wohnzimmer-Kritiker zu werden.
Während der Musikkritiker versucht, sein Hoheitsgebiet (die Deutungshoheit über den Klang) gegen diese technischen Moden verbissen zu verteidigen und dabei unweigerlich in seine Ursprungsbiotope abtaucht, in die Blättchen- oder Feuilleton-Nische, entwickelt sich allmählich aus der Spezies des Musikkritikers die neue Form des Musikjournalisten. Sie ist die erste erkennbare Evolution der Rasse.
Gemeinhin bekriegen Musikkritiker die Musikjournalisten gern und (das ist ihr biologischer Habitus) kritisieren sie aufs Schärfste. Tatsächlich aber ist die Koexistenz beider  journalistischen Formen nebeneinander unabdingbar für eine moderne Berichterstattung über Musik: Der Musikkritiker mit seiner Möglichkeit der Deutung und Einordnung ist unantastbare und außenstehende Grundlage für den Musikjournalisten. Und der Musikjournalist verhilft der Musikkritik durch seine Nähe und Involviertheit zur Materie zu einem größeren Publikum – und beflügelt dadurch die dringende Notwendigkeit der Worte über Musik in unseren Medien.

Die Weiterentwicklung des Musikkritikers zum Musikjournalisten ist auch deshalb wichtig, weil die klassische Musik in den letzten 30 Jahren weitgehend aus der Populärkultur verschwunden ist. In den 70er-Jahren sorgten im Fernsehen Ratesendungen wie „Erkennen Sie die Melodie“ dafür, dass auch Menschen, die mit Klassik nur wenig am Hut hatten, jeden Sonntag mit eben dieser fremden Musik unterhalten wurden. Selbst in den großen Samstagabend-Shows von „EWG“ bis „Der große Preis“ waren Künstler wie René Kollo oder Herrman Prey zu Gast. Anneliese Rothenberger hatte sogar eine eigene Sendung, und August Everding oder Justus Frantz waren zwar viel kritisierte, aber durchaus erfolgreiche Pioniere der klassischen Unterhaltung mit wissendem Fundament.
Diese Selbstverständlichkeit ist uns längst abhanden gekommen. Klar, auch heute tritt Lang Lang bei „Wetten dass..?“ auf, erscheint dabei aber ebenso gestriegelt wie der neue Moderator. Seine musikalische Leistung, sein Kampf mit der zweiten Schöpfung, spielt dabei kaum eine Rolle. Und Künstler mit eigenen Klassik-Sendungen wie etwa Rolando Villazón und sein Format „Stars von morgen“ (das ich mitentwickeln durfte), werden in die Nischenkanäle des Fernseh-Feuilletons, in arte oder 3Sat, in die „Fernsehblättchen“, verbannt – ebenso wie die meisten Live-Übertragungen von spektakulären Klassik-Veranstaltungen.

Die Maßeinheit von Sekunden wirkt in der Welt der klassischen Musik, die sich zum Teil mit jahrhundertealten Klängen befasst, fast lächerlich. Auf der anderen Seite: schon der Bruchteil einer Sekunde kann beim Einsatz der Bläser auch heute noch eine ganze Beethoven-Symphonie zerstören. Zeit ist relativ, ebenso wie der Raum – davon erzählt sowohl die Marschallin im „Rosenkavalier“ als auch Wagner in seinem „Parsifal“.
Die neuen Medien haben sowohl Zeit als auch Raum schmelzen lassen: Die Kritik eines Konzertes kann heute nur wenige Stunden nach einer Aufführung überall in der Welt online in Bild und Ton abgerufen werden. In Tageszeitungen ist sie erst zwei Tage später zu lesen. Die Spezies des Musikkritikers tut sich derzeit noch schwer damit, sich diesem neuen Biotop des Internets anzupassen. Sie beharrt auf ihrer Ausgeschlafenheit, darauf, dass nur das gedruckte Wort Wert habe – und wird dabei unweigerlich zum Dinosaurier. Die Kritik im Netz ist nicht nur schneller als in der Zeitung, sondern sie kann auch neue Formen entwickeln – hier muss und wird die Evolution des Criticus Musici, wenn sie überhaupt noch kommt, einsetzen müssen.

Der herkömmliche Musikkritiker empfindet all das als Bedrohung seiner „Kunst“ – und weigert sich, mitzumachen. Die Evolution aber zeigt seit Jahrmillionen, dass nur Arten, die sich ihrer Umwelt anpassen, die Qualitäten alter Lebensformen retten und neue, ihrem Biotop entsprechende Möglichkeiten entwickeln, langfristig überlebensfähig bleiben.
Ob die Spezies des Criticus Musici ausstirbt, kann heute kaum beantwortet werden. Sein altes Biotop hat sich jedenfalls radikal verwandelt. In den Zeitungen und Zeitschriften herrscht Eiszeit, was das Zeitalter der Multimedialität bringt, wissen wir noch nicht. Es sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei dieser Art um eine eher kleine Population handelt, die höchstens auf 10 Prozent ihrer Mitmenschen wirkt. Um so schützenswerter ist sie.


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